Von Interessen, Bedürfnissen und Werten
Ich hatte vor einiger Zeit die große Ehre und Freude einen sogenannten „Woodbadgekurs“ mitleiten zu dürfen. Bei dieser Gruppenleiterausbildung der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg kommen Leiterinnen und Leiter aus ganz Deutschland zusammen um ein gemeinsames Projekt durchzuführen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Entscheidung über das Projekt in einem Konsens getroffen werden muss. Konkret lautet der Handlungsauftrag an die Teilnehmer*innen:
Gemeinsames reflektiertes Handeln
auf pfadfinderische Art und Weise,
auf der Grundlage der Interessen und Bedürfnisse
jeder und jedes Einzelnen
Um diesen Handlungsauftrag zu erfüllen muss jeder für sich selbst in Erfahrung bringen, welche Interessen und Bedürfnisse (und vielleicht auch Werte) er hat.
Auf dem Woodabdgekurs arbeiten wir mit der sogenannten Spurensicherung (bzw. dem Biographischen Arbeiten) darauf hin. Dabei geht es darum, sich zu überlegen, welche Ereignisse im Leben jemanden zu dem gemacht hat, der er heute ist. Was sind die „Milestones“, die das bisherige Leben geprägt und den Charakter geformt haben?
Auf Basis dieser Spurensicherung finden die Teilnehmer*innen dann ihre Hobbys und darüber wiederum ihre Bedürfnisse. So kann das Interesse „Fahrrad fahren“ ganz unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen. Der eine fährt gerne Downhill, um den Adrenalin-Kick zu erhalten, die andere fährt gediegen durch den Wald, weil sie gerne in der Natur ist.
Die Kenntniss über die eigenen Bedürfnisse bildet die Grundlage für die Konsensfindung. In dem Woodbadgekurs-Konzept für die Jungpfadfinderstufe steht darüber „Die Interessen und Bedürfnisse der einzelnen Teilnehmenden sind der Ausgangspunkt und die Grundlage des gemeinsamen Handelns („look at the boy“).“ Nur wenn ich weiß, welche Bedürfnisse im gemeinsamen Handeln befriedigt werden müssen, kann ich mich für ein Projekt begeistern und dadurch die Konsensfindung ermöglichen.
Es ist immer wieder faszinierend, dass viele sich über ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse noch keine Gedanken gemacht haben. Dabei sind es doch unsere Bedürfnisse, die uns antreiben und uns eine Zielrichtung vorgeben. Es gibt ja vermutlich einen Grund, wieso sich jede und jeder einzelne genau die Hobbys und Interessen gesucht hat, die sie nun mal haben. Nämlich um damit ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
Typische Bedürfnisse sind z. B. der Drang etwas Nachhaltiges zu erschaffen oder Gemeinschaft zu erfahren. Etwas zu erleben, das Spaß macht, aber auch selbst Spuren zu hinterlassen.
Werte
Schon auf dem Woodbadgekurs, aber auch die Tage danach, habe ich darüber nachgedacht, in welchem Zusammenhang Werte mit den Interessen und Bedürfnissen stehen.
Werte gelten als die wichtigsten Motivatoren bzw. Antriebskräfte von Menschen. Aus sprachlicher Perspektive sind Werte Normalisierungen, also statisch gewordene Prozesswörter (Verben) von hohem Allgemeinheitsgrad. Werte beantworten die Frage nach dem Wofür. Sie zeigen an, welchen Sinn das Leben für einen Menschen hat und bestimmen den ethischen Rahmen, innerhalb dessen sich jemand bewegt. Werte und Lebensqualität sind eng miteinander verbunden. Wenn jemand nicht in Einklang mit seinen Werten lebt, erfährt er Unzufriedenheit und Leere.
Werte sind meiner Meinung nach der Kompass für das eigene Leben und sie sind eine weitere Abstraktion von Bedürfnissen.
Bleiben wir bei unserem Fahrrad-Beispiel: Das Interesse ist das Fahrradfahren, das Bedürfnis dahinter die Lust auf Adrenalin und der dahinterliegende Wert könnte Freiheit sein.
Um seine eigenen Werte zu Finden gibt es eine relativ einfache Übung, die man zu zweit durchführen kann:
- A nennt drei Sätze über seinen Traumurlaub
- B bennent die in den Sätzen enthaltenen Werte, A überprüft, ob sie für ihn sprachlich stimmig sind.
- A nennt drei Sätze über ein derzeit vorhandenes Problem.
- B erkennt abermals die Werte
- A formuliert die Werte positiv
Durch diese Übung werden sowohl die „hin zu“ Werte (durch den Traumurlaub) als auch die „weg von“ Werte (durch das aktuelle Problem) berücksichtigt.
Um eine Hierarchie der Werte zu erstellen eignet sich folgende Übung:
- A erzählt B, was er sich wünscht. Die Antwort ist in der Regel ein Wert.
- B fragt, was es A bedeutet, diesen Wert zu haben. A nennt die entsprechenden Kriterien.
- B fragt, ob es etwas gibt, was A noch lieber hätte. Die Antwort ist in der Regel wieder ein Wert.
- B fragt erneut, was es A bedeutet, diesen Wert zu haben. A nennt die entsprechenden Kriterien.
Und so geht es weiter bis zum höchsten Wert.
In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass es zwei höchste Werte gibt (bei mir ist das zum Beispiel so). Wenn diese Werte sich nicht gegenseitig ausschließen oder im Wege stehen ist das auch kein Problem. Manchmal kann es aber vorkommen, dass sich die beiden höchsten Werte widersprechen (z. B. „Freiheit“ und „Sicherheit“). Dann hat man auf jeden Fall schon mal etwas gefunden, an dem man arbeiten kann. 😉
Die höchsten Werte geben nun also die Richtung an und können ein sehr guter Kompass sein. Entspricht mein Beruf meinen höchsten Werten? Oder muss ich immer wieder dagegen verstoßen, wenn ich meinen Job ordentlich machen möchte? Passt mein aktuelles Privatleben zu meinem Wertekanon? Habe ich die passenden Hobbys für meine wichtigsten Werte?
Was sind deine Interessen und Bedürfnisse? Was ist dein höchster Wert?